Der Reisende ohne Gepäck

Der Reisende ohne Gepäck

Von Idan Meir, Dienstag, 8.2.2022
Übersetzung Michael Reiterer

Vor etwa 20 Jahren, als ich Theater studierte, gab es ein bestimmtes Stück, mit dem ich mich sehr gerne forschend auseinan­der­set­zte. Ich bekam sogar ein Stipendium für die Regiear­beit an einem Teil des Stücks. „Der Reisende ohne Gepäck“ von Jean Anouilh, oder auf Franzö­sisch: „Le Voyageur sans bagage“, hat mich fasziniert, und heute ist mir klar gewor­den, warum das so war.

Seit meiner Jugend erinnere ich mich daran, wie wichtig die Freiheit für mich war. Lange Strecken zu laufen gab mir ein Gefühl der Bewegungs­frei­heit und einen ruhigen Geist, und das Surfen machte mir riesi­gen Spaß, weil ich in der Natur sein konnte, wo die Anforderun­gen des Lebens keine Rolle spiel­ten und das Denken langsamer wurde.

Das Stück von Anouilh erzählt die Geschichte eines Veter­a­nen des Ersten Weltkriegs, der an Amnesie leidet und versucht, sein Gedächt­nis wiederzuer­lan­gen. Als er seine grausame Vergan­gen­heit als junger Mann entdeckt, der Tiere als Sport tötete, seinen besten Freund eine Treppe hinun­ter­stieß, ihm das Rückgrat brach und seiner Familie weitere schreck­liche Dinge antat, beschließt er, seiner gewalt­täti­gen Identität den Rücken zu kehren und einen neuen Weg einzuschla­gen. Am Ende des Stücks geht er mit einem geheimnisvollen Jungen, der seine Eltern als Kleinkind bei einem Bootsun­fall verloren hat, in eine unbekan­nte Zukunft.

Wenn es keine Vergan­gen­heit gibt, hat man offen­bar eine bessere Zukunft.
Die Figur des kleinen Jungen steht für Naivität, Unschuld und die Hoffnung auf Heilung in der Zukunft. In Anouilhs Stück geht es um die Freiheit, die Vergan­gen­heit loszu­lassen und die Zukunft neu zu gestal­ten. Viele von uns lassen sich leicht von kleinen und großen Geschichten aus der Vergan­gen­heit einfan­gen, die unser Wohlbefinden in Frage stellen, wenn sie für uns haupt­säch­lich gefühls­ge­ladene Gedanken zu sein scheinen. Und die Frage ist: Wie können wir aus dem gewohn­ten Denken heraus­treten und uns von vergan­genen Geschichten befreien?

Wer wäre ich ohne meine Vergangenheit?

Die meisten Menschen neigen dazu, an ihren Geschichten festzuhal­ten und sich über sie zu definieren. Es ist nicht leicht, diese loszu­lassen. Wer wäre ich ohne das, was meine Eltern mir angetan haben, oder meine Ex-Frau, oder mein bester Freund, oder das Leben, oder ich selbst? Wer wäre ich ohne meine Leistun­gen, Abschlüsse, Misser­folge oder Erfolge?

Eine Übung mit kurzer Wirkungsdauer.

Stell dir vor, du spielst jetzt die Haupt­figur in Anouilhs Stück und erinnerst dich nicht mehr an deine Vergan­gen­heit. Wie fühlt es sich an, keine Geschichte zu haben? Wie trifft dich das in deinem Körper im jetzi­gen Moment? Als ich den Schaus­pieler, der Gaston (die Haupt­figur in Anouilhs Stück) spielte, fragte, war seine Antwort: leicht, sehr leicht und unver­wurzelt im Raum schwebend. Und er hat diese Leichtigkeit in seine Charak­terze­ich­nung übernommen.

Für die einen mag es eine Erleichterung, ein Gefühl der Freiheit sein, keine Vergan­gen­heit zu haben, für die anderen wird es erschreck­end sein. Wenn du diese Worte liest, denkst du da gerade an deine Geschichte? Wahrschein­lich nicht. Fühlst du dich dadurch weniger gut? Du musst deine Vergan­gen­heit nicht völlig loslassen, aber es ist gut, zu bemerken, wenn dich dein Anteil nicht völlig loslässt.

Wenn wir im Körper embod­ied sind, sind wir präsent.

Wir haben keine Vergan­gen­heit und keine Zukunft, wenn wir tanzen oder Yogastel­lun­gen praktizieren. Manch­mal erinnern wir uns nicht einmal mehr an unsere Namen, was für die spirituelle Praxis nicht relevant ist. Wir sind einfach da. Ich kann mich dabei ertap­pen, wie ich durch den Raum tanze oder Kopfs­tand übe und über Dinge nachdenke, die noch zu tun sind. In diesen Situa­tio­nen habe ich genug Raum in mir, um zu erken­nen, dass diese Gedanken im Moment nicht so wichtig sind. Dann entscheide ich mich, meine Aufmerk­samkeit wieder auf den Körper zu richten. Die Embod­i­ment-Praxis ist in der Lage, dich in den gegen­wär­ti­gen Moment zu führen, wo Vergan­gen­heit und Zukunft für eine Weile in den Hinter­grund treten.

Die Seele blüht auf, wenn wir präsent sind.

Der Verstand schwebt zwischen Vergan­gen­heit und Zukunft, während die Seele im gegen­wär­ti­gen Moment aufblüht. Unser tiefster Ausdruck - die Seele - liebt den gegen­wär­ti­gen Moment, den einzi­gen Ort, an dem sie sich zeigt. Wir können unsere Seele nicht tief berühren, wenn wir zu viel nachdenken und planen. Wir sind auch durch Schmerz mit unserer Seele in Kontakt. Wenn vergan­gener Schmerz auftaucht, können wir uns mit unserer Seele verbinden, wenn wir den Schmerz im gegen­wär­ti­gen Moment fühlen, wenn wir ihn annehmen und uns erlauben, ihn zu fühlen, ohne irgendwelche Geschichten oder Kommentare hinzuzufü­gen. Natür­lich machen viele Menschen aus ihrem Schmerz und ihren schwieri­gen Lebenser­fahrun­gen fantastis­che Kunst­werke. Der magis­che Schaf­fen­sprozess dieser Meister­w­erke wird jedoch nur im gegen­wär­ti­gen Augen­blick vollzo­gen bzw. beobachtet.

Der Sweet Spot

Wenn ich eine Yogastel­lung praktiziere und diesen Moment finde, in dem ich ganz im Körper präsent bin, habe ich das Gefühl, dass ich dort für immer bleiben möchte. Es fühlt sich an wie ein süßer Sog zu etwas Gutem - das gleiche Gefühl, das man kurz vor dem Einschlafen hat, oder wenn man einem Baby beim Einschlafen zusieht, denn da weiß man, dass es an einen guten Ort geht.

Diese Erfahrung kann manch­mal auf der Tanzfläche gemacht werden, oft gegen Ende einer Session. Nach einer gewis­sen Lockerung des Körpers und einer Entspan­nung des Geistes stellt sich eine gewisse Zärtlichkeit ein, und der Grad der Süße nimmt zu. Nachdem ich jahre­lang bewusstes Tanzen unter­richtet habe, merke ich das Gute in der Luft am Ende einer Session. Selbst wenn wir online tanzen, sind die Menschen so freundlich, zärtlich und lieb zueinan­der. Und das ist die tiefste Bedeu­tung unserer Praxis, zu diesem Punkt des reinen Bewusst­seins zu gelan­gen, wo das Herz offen ist und die Liebe aufblüht. Es gibt kein Urteil, sondern nur die reine Essenz des Zusam­men­seins mit anderen Wesen.

Wie kann ich das in meiner Routine anwenden?

Es ist schön, diese Süße zu erleben, wenn man praktiziert, beson­ders in einer Gruppe, aber wie man sie in seinem Alltag beibehält, ist die Millio­nen-Euro-/-Dollar-Frage. Eckhart Tolle spricht von Achtsamkeit. In dem Moment, in dem du erkennst, dass du durch irgen­det­was getrig­gert wirst, durch vergan­gene Gedanken des Bedauerns oder der Scham oder des Stolzes oder durch Zukun­ftssor­gen, ist das der Ort, an dem sich die Chance des Erwachens versteckt.

Wie kann ich das tun?

Es ist dasselbe wie auf der Tanzfläche oder während der Medita­tion oder jeder anderen Embod­i­ment-Praxis. Spüre deinen Körper, spüre deine Füße, nimm deinen Atem wahr. Wenn ich mit Bewuss­theit atme, öffne ich einen Raum, in dem sich der Geist in eine neue Dimen­sion verwan­deln kann. Wenn ich inten­siv auf die Geräusche um mich herum höre, auf die Stille zwischen den Tönen, Worten oder Geräuschen, bin ich präsen­ter. ICH BIN MEHR PRÄSENT, wenn ich meine Augen öffne und die Objekte um mich herum, ihre Formen und Farben beobachte und ihre Einzi­gar­tigkeit wertschätze. Dann versuche ich, meine Aufmerk­samkeit auf die Tatsache zu lenken, dass ich mir bewusst bin, dass ich präsent bin und dass ich mir des Bewusst­seins bewusst bin, was mich zurück zum Sweet Spot bringt.

In dem Moment, in dem ich mir bewusst bin, dass ich von vergan­genen oder zukün­fti­gen Geschichten getrig­gert werde und in den gegen­wär­ti­gen Moment zurück­kehre, kann ich die Freiheit tiefer erfahren als beim Laufen eines Marathons oder beim Surfen auf einer schönen Dünung. Wie ein Reisender ohne Gepäck gehe ich in Leichtigkeit und Unbeschw­ertheit, naiv und unschuldig, in die unbekan­nte und nicht existierende Zukunft.

1099 954 Idan Meir