Eine Welle ist ein Ozean
IDAN MEIR, DIENSTAG, 16.11.2021
Übersetzung Michael Reiterer
Ein kurzes Kapitel über die Reise zu einem bewussten Leben. Das Getrenntsein führt zu Frustration und kann allmählich zu Aggression führen. Darüber spricht Gordon Neufeld mit klaren Worten im Buch „Unsere Kinder brauchen uns! Die entscheidende Bedeutung der Kind-Eltern-Bindung.“, das er gemeinsam mit Gabor Maté verfasste.
Ich sehe deutlich, was passiert, wenn ich zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt und zu lange von meinem Sohn getrennt bin, oder wenn er zu lange im Kindergarten ist - wie sich die Trennung von uns, seinen Eltern, auf sein Verhalten auswirkt. Aber wie ist das mit uns, den so genannten „Erwachsenen“, auch wir erleben ständig die Trennung, das Getrenntsein. Wir Menschen denken immer, dass die Trennung der normale Zustand der Realität ist. Aber hier kommt eine Neuigkeit und gleichzeitig alte Weisheit: Entscheidend ist, dass unser Geisteszustand heute von der Kultur des Individualismus genährt wird. Dabei bestätigt uns der Geist des Egos ständig diese Geschichte, dass wir abgetrennt sind, wodurch wir uns von unserer wahren Natur, unserer Präsenz und unserem Bewusstsein dessen trennen, was gerade jetzt lebendig und real ist. Ein Leben im Getrenntsein, in der Unverbundenheit von anderen Spezies, von der Natur und von anderen Menschen, manchmal auch von denen, die wir am meisten lieben, führt zu Leiden.
Wenn wir uns bewegen, wenn wir tanzen, Yoga oder andere körperliche Übungen praktizieren, entsteht ein Gefühl von Wachstum und Ausdehnung. Es ist, als ob wir über unsere Grenzen hinausgehen und uns auf etwas zubewegen, das größer ist als wir. Dies ist ein Prozess der Ausdehnung und des Verbundenseins. Ich bin nicht nur mit meinem Körper und meinem Geist verbunden, sondern auch mit meiner Umgebung, dem Raum um mich herum, den Gegenständen im Zimmer und anderen Menschen, die denselben Fokus und dasselbe Ziel haben wie ich. Aber außerhalb dieser Praxis erlaubt uns der geschäftige Geist oft nicht, den gegenwärtigen Moment und die Ausdehnung zu erfahren. So werden aus unserer täglichen Routine viele Momente, die wir am liebsten in eine futuristische Zeit verlegen würden, in der wir irgendwie zufrieden sein werden.
Wenn der Verstand uns nicht erlaubt, präsent zu sein, sind wir von dem Gefühl der Einheit mit uns selbst und anderen abgeschnitten, und die Möglichkeiten, über die Ablenkungen und die Geschichten darüber hinaus zu wachsen, sind begrenzt. Wir vergessen oder leugnen, dass wir Teil von etwas Größerem sind als unsere kleinen Geschichten. Es ist, als ob eine Welle denkt, dass sie vom Ozean getrennt ist. Sie kann niemals getrennt sein, sie erfährt vielleicht ihre Individualität, Stärke, Kreativität oder Verletzlichkeit, aber wird immer Teil des großen Meeres sein, aus dem sie kam und in das sie zurückkehren wird. Das Gleiche gilt für einen Lichtstrahl, der nie von der Sonne getrennt ist, und das Gleiche gilt für uns Menschen, die wir nie von dem Namenlosen getrennt sein werden, egal, wie wir es nennen. Ich nenne es am liebsten das Leben oder Lebenskraft oder das Unbekannte, Gott… Wichtig ist nur, dass du mit dem Begriff etwas anfangen kannst.
Tatsache ist, dass wir niemals getrennt sind, sondern in einer Illusion der Trennung leben, die zu Frustration, Aggression und Leiden führen kann. Wir haben uns im denkenden Verstand gefangen, der uns vom Moment und von der lebendigen Gegenwart trennt. Der Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, besteht darin, dass wir uns jeden einzelnen Moment bewusst machen, vor allem, wenn wir durch jemanden oder etwas getriggert werden.
Aber wie können wir das tun? Wie können wir den Teufelskreis durchbrechen? Wenn ich mich bewege, atme, tanze oder meine Muskeln dehne, oder wenn ich diese Worte schreibe, kann ich den Raum um mich herum erfahren, meinen Körper spüren, und allmählich kann ich erkennen, wo mein Geist ist. Ich bitte ihn einfach, hier zu bleiben, sich nicht in Geschichten, Planungen oder Erinnerungen zu verlieren und nur die körperlichen Empfindungen zu erleben, anstatt den Illusionen des Verstandes nachzugehen. Es hilft, zum Atem zurückzukehren, einen physischen Anker, eine Richtung oder einen Fokus zu finden, meine Füße auf dem Boden zu spüren, meine Umgebung, die Menschen, mit denen ich mich im Raum befinde, oder wenn ich allein bin, die Farben des Raumes, die Blumen in der Vase oder die Bäume draußen. All das sind kleine Trittsteine zum gegenwärtigen Moment, eine Zuflucht, die wir nehmen und zu der wir zurückkehren können, wann immer wir uns erinnern oder daran erinnert werden.
Letzten Sonntag war ich mit meiner Familie im Wald spazieren. Das ist unsere Lieblingsbeschäftigung am Sonntag. Als ich mit dem Bus die Hügel rund um Wien hinauffuhr, suchte ich nach einem Anker, der mir helfen konnte, in den gegenwärtigen Moment zurückzukommen. Mit drei Kindern musst du sehr oft in deine Präsenz zurückkehren. Ich schaute in den Himmel, meine Gedanken wurden immer ruhiger, ich schaute auf die Bäume, die sich während der Fahrt bewegten, das half auch. Ich versuchte, mich von allen Ablenkungen zu lösen, alles war in Ordnung. Aber als ich meinen Sohn ansah, veränderte sich etwas.
Oft, wenn ich ihn ansehe, einen viereinhalbjährigen Jungen, fängt mein Verstand an, mir Geschichten zu erzählen, die ich an ihn weitergebe, wenn ich nicht voll präsent bin. Das klingt dann vielleicht so: „tu dies…“, „tu das nicht“, oder: „sieh dir das an…“, „warum tust du das“, „hör auf mit dem“ und so weiter. Dieses Mal beobachtete und würdigte ich ihn nur. Keine inneren Kommentare, keine inneren Dialoge, keine zusammen gesponnene Geschichten, da war nur reines bewusstes Gewahrsein. Das war ein schöner Moment für mich. Plötzlich erlebte ich eine tiefe Stille in mir, mein Herz weitete sich ihm gegenüber aus, ich wurde weicher, liebevoller und freundlicher zu ihm, ohne etwas zu tun - ich war einfach nur. Ich sah einen süßen kleinen Jungen, sehr unbefangen, sehr neugierig, der den Ausblick aus dem Fenster genoss. Dieser Junge ist mein Sohn, und ich spürte, wie sehr ich ihn liebte. Keine Geschichten mehr.
Es war ein Gefühl, an dem ich festhalten wollte. Ich habe versucht, so lange wie möglich bei diesem Gefühl zu bleiben, und ich versuche, so oft wie möglich dahin zurückzukommen, wenn ich mich ihm nähere, vor allem, wenn die Umstände nicht so schön und süß sind.
Wenn der Verstand den gegenwärtigen Moment nicht vernebelt, öffnet das Herz ein Fenster zu unserer wahren Natur der Liebe, des Mitgefühls und der Freiheit. Vielen Dank dafür, dass du diese Geschichte bis hierher gelesen hast, bitte zögere nicht, unten deine Kommentare zu schreiben und Gedanken mit mir zu teilen. Ich bin gespannt darauf, von dir zu hören. Mögen wir präsent, bewusst und verbunden bleiben.