„Es ist alles im Kopf“
IDAN MEIR, DIENSTAG, 1.2.2022
Übersetzung Michael Reiterer
Der Geist als Mittel oder als Hindernis für ein bewusstes Leben.
Als junger Soldat in der israelischen Armee hörte ich häufig diesen Satz: „Es ist alles im Kopf.“ Man wurde für sehr harte körperliche und geistige Herausforderungen trainiert, und man lernte, dass man diese überstand, weil der Geist über Erfolg oder Misserfolg entscheidet.
In dieser überstrapazierten Floskel steckt viel Wahrheit, und sie hat eine gewisse Tiefe. Wenn man leidet - und das tun wir alle, geht es nicht um die jeweilige Situation, in die uns das Leben versetzt, sondern darum, welche Geschichte wir uns darüber erzählen, was uns leiden lässt. Alle unsere Probleme sind irgendwo zwischen deinen beiden Ohren, sagt Eckhart Tolle, aber in unseren Köpfen verbirgt sich auch das Tor zu unserer Freiheit.
Unser Denken kommt nie zur Ruhe. Das ist eine Tatsache. Während wir schlafen, lässt das Denken nach, aber wir sind geistig, emotional und körperlich aktiv, wenn wir träumen. Aber es gibt auch die Möglichkeit, einen Zustand des Nicht-Denkens zu erreichen. Wir erreichen diesen Zustand meist für kurze Momente, wenn wir uns einem schönen Anblick in der Natur oder einem Kunstwerk hingeben, wenn wir aufmerksam einer Musik lauschen, die uns berührt, oder einem besonderen Geräusch in der Natur, das unsere Gedanken mitnimmt.
Wenn wir ein Neugeborenes, ein Baby, ein Tier oder ein winziges Samenkorn, aus dem ein Blatt wächst, betrachten, sind wir für ein paar Augenblicke frei von allen Konzepten, so lange bis sich das Denken erneut mit „so süß“, „so schön“ oder anderen Kommentaren, Bezeichnungen oder Benennungen zurückmeldet.
Der auf Konzepten basierte Verstand schaltet sich ein und unterbricht den Moment der Stille. Wir alle leben mit unserem kollektiven und persönlichen Hintergrund an Kommentaren, die uns alles sagen, was wir über eine bestimmte Situation, Menschen, Lebensbedingungen, Problemlösungen und insbesondere über die Probleme anderer Menschen wissen müssen.
Manchmal sind die Kommentare freundlich, kreativ und aufregend, oft aber auch durch Stress ausgelöst und nicht so angenehm. Da gibt‘s Klagen, Urteile und Meinungen über alles, was in der Welt, in unserem Leben oder bei anderen schief läuft.
Wenn wir uns im nicht auf Konzepten basierenden Verstand befinden, sind wir nur Zeug*innen und bleiben still. Keine Kommentare, keine Selbstgespräche, keine Geschichten, keine Versuche, Dinge zu verstehen oder Situationen zu verändern, Probleme oder Menschen zu lösen. Keine Schuldzuweisung oder Beschwerde. Dann sind wir im Kontakt mit dem reinen Aspekt unserer Existenz, unserer Essenz als menschliches Wesen, zu der wir leicht Zugang bekommen können.
Der auf Konzepten basierende Verstand ist horizontal. Er hat Vergangenheit und Zukunft. Er liebt Planungen und Geschichten. Er ist oft in Eile und möchte woanders sein. Manchmal kommt er auf Kurzbesuch in die Gegenwart, aber weil er so in Eile ist, kann er sich nicht daran erfreuen und merkt schnell, dass der gegenwärtige Moment langweilig ist; dann muss er weiter, um nach einem neuen geistigen Inhalt zu suchen, den er konsumieren kann.
Der nicht-begriffliche Verstand ist vertikal. Er geht tief in die Situation, in den Moment, hinein und bleibt dort. Er hält an den körperlichen Empfindungen, den Augen, Wahrnehmungen, Ohren, Geschmack, Geruch und Berührung fest. Er geht über die Gedanken hinaus. Es handelt sich dabei um das nicht denkende Potenzial des Geistes.
Was ist Freiheit?
Als Menschen haben wir die großartige Möglichkeit, zwischen beiden zu navigieren. Das spielt sich alles in unserem Kopf ab. Wenn wir uns aus dem Griff des begrifflichen Verstandes befreien können und im Nicht-Denken-Modus bleiben oder zumindest Raum zwischen uns und unseren Gedanken lassen, sind wir frei.
Wenn ich merke, dass ich von einem Gedankenkreislauf angetrieben werde, bin ich unter der Gedankenebene. Wenn ich merke, dass meine Gedanken mich in Haft genommen haben, kann ich aus diesem Tagtraum erwachen und mich vielleicht über das Denkmuster erheben und versuchen, so lange wie möglich dort zu bleiben. Wie kann ich das tun? Dazu komme ich später.
Der nicht denkende Geist ist der Ort, an dem unsere innere Kraft wohnt. Erinnerst du dich an die alten Karatefilme, in denen sich Bruce Lee auf einen Kampf vorbereitet? Wie eine Katze wird er sehr wachsam, die Augen offen und konzentriert, dem „Feind“ zugewandt, und körperlich und geistig gewappnet. Er nimmt eine intensive körperliche Stellung ein und hält für einige Sekunden inne. Dann folgt das bewusste Atmen, das tiefe Ausatmen. Der Körper hält inne, und der Geist hält inne. Darin liegt das Tor zur inneren Kraft. Stell dir vor, was passieren würde, wenn in diesem Moment ein Selbstgespräch beginnen würde. Der Kampf würde sofort zu Ende sein.
Ich erinnere mich daran, wie wachsam und lebendig ich als Soldat in einem fremden Land unterwegs war. Ich wusste, dass ich an jeder Ecke, an der eine Gefahr auftauchen konnte, voll präsent sein musste. Damals hatte ich keine Zeit, über irgendetwas nachzudenken, und keine Geschichten im Kopf. Die Augen waren weit geöffnet, um nach verdächtigen Bewegungen in der Dunkelheit Ausschau zu halten, und die Ohren lauschten aufmerksam in der Stille der Nacht. Ich hörte meinen Atem und mein Körper war wie ein Tier, eins mit der Umgebung. Man fühlt sich voll lebendig, während man vielleicht dem Tod entgegengeht.
Aber man muss sich nicht in eine gefährliche Situation begeben, um sich lebendig zu fühlen, auf einer Bühne vor Hunderten von Menschen stehen, auf hohen Wellen surfen, von Klippen springen oder Ähnliches. Ein einfacher Spaziergang in deiner Stadt kann dir ohne Stress oder Spannung zu Wachheit und Achtsamkeit verhelfen. Es kann auch einfach beim Abwaschen, beim Gemüseschneiden oder beim Gassigehen mit dem Hund geschehen.
Wenn wir tanzen, Yogastellungen oder bewusste Atemtechniken praktizieren, öffnen wir uns für die Möglichkeit, uns vom begrifflichen zum nicht-begrifflichen Verstand zu erheben, von der Horizontalen zur Vertikalen, von den Denkmustern zur leeren Weite des reinen Bewusstseins. Das bewusste Atmen, das wache Wahrnehmen mit allen Sinnen - die Augen sehen, die Ohren hören aufmerksam zu, und wir bleiben bei den körperlichen Empfindungen der Haut, der Muskeln und der Knochen.
Es ist alles im Kopf, die Entscheidung zu schlafen und den Traum oder den Alptraum der Geschichten, die unser Verstand uns erzählt, fortzusetzen - oder zu wählen, aus dem Traum aufzuwachen und Bewusstsein, Wachsamkeit und bewusstes Leben zu praktizieren.