Freudiges Leiden

Freudiges Leiden

IDAN MEIR, Di. 29.3.2022
Übersetzung Michael Reiterer

Als ich vor drei Wochen begann, diesen Post zu schreiben, litt ich so sehr, dass ich aufhören musste. Die Frage, wie ein privi­legierter weißer jüdis­cher Israeli, der in Wien lebt und über das Leiden schreiben kann, ließ mich nicht los, bis ich erkan­nte, welcher Teil von mir damit beschäftigt war, mich selbst zu sabotieren, indem ich mein Leiden mit dem anderer verglich. Dieser Gedanke ist in meiner israelis­chen Identität verwurzelt, die für das Leid und den Kummer von Millio­nen von Palästinenser*innen jeden Tag verant­wortlich ist, und dieser Gedanke wurde noch verstärkt, als ich die Situa­tion in der Ukraine betra­chtete und die massiven Zerstörun­gen sah, die Millio­nen von Menschen gerade jetzt erlei­den. Doch das Thema ließ mich nicht mehr los. Nachdem ich die Wurzel dieses Gedankens erkannt hatte, konnte ich zum Schreiben zurück­kehren, ohne zu versuchen, das enorme Leid der gesamten Menschheit in einem Blog zu behandeln.

„Das Leiden existiert.“ - Siddhartha Gautama lebte ca. 500 v. Chr. in der Ganges-Ebene in Indien.

Siddhartha Gautama, als Buddha bekannt, der „Erwachte“ jenseits des Leidens, betonte, dass das Leiden existiert, und brachte es ans Licht des menschlichen Bewusst­seins. Seine Feststel­lung, dass Leiden existiert, ist das Funda­ment der buddhis­tis­chen Religion, die um seine Lehren herum aufge­baut wurde.

Leben & Leiden - eine All-Inclusive-Reise.

Egal, in welchen Stamm, in welche Familie, welche Nation­al­ität, welche Hautfarbe oder welchen Körper man hineinge­boren wurde, das Leiden gehört dazu. Unabhängig davon, wie viel Geld oder Besitztümer man hat, geht das Leiden weder an den Reichen noch an den Armen vorbei. Leiden ist ein Prozess der Reife, der Selbsterken­nt­nis und der Verwirk­lichung des Wesen­saspekts unseres Menschseins.

Das Leiden hat viele Gesichter

Leid muss nicht gleich ein großer Verlust oder eine tiefe Depres­sion sein. Es kann eine kleine Irrita­tion oder ein stören­der Gedanke sein, der unsere Stimmung und Gesund­heit beein­trächtigt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Alle Menschen werden irgend­wann im Leben mit dem Verlust eines geliebten Menschen konfron­tiert, und das kann für viele Menschen eine große Heraus­forderung darstellen, vor allem, wenn es zu früh oder überraschend kommt. Enormes Leiden kann zu einem großen Erwachen führen, aber ich habe vor, in diesem Artikel über die alltäglichen, unbewussten Leiden­szustände des Sisyphos zu schreiben. Das tägliche Leiden führt dazu, dass wir uns über das Leben bekla­gen und unruhig und unglück­lich werden.
In dem Moment, in dem wir uns dessen bewusst werden, dass wir leiden, und es uns eingeste­hen, beginnt unser Weg zu einem bewussten Leben mit weniger Leid.

Raus aus der Komfortzone

Das Leben neigt dazu, uns aus unserer Komfort­zone in heraus­fordernde Situa­tio­nen zu bringen, aber Heraus­forderun­gen müssen nicht zu Leiden führen. Im Gegen­teil, viele Menschen, die im Leben mit großen Heraus­forderun­gen konfron­tiert waren, fanden ihre Stärke und erkan­nten ihr tieferes Selbst.

Mein Großvater verlor seine gesamte Familie außer seiner kleinen Schwester im Nazi-Deutsch­land und ging mit 16 Jahren in ein neu geschaf­fenes Land im Nahen Osten. Ein derart großer Verlust kann in einem so jungen Alter zu tiefem Leid führen, aber ich habe nie einen Anflug davon bei ihm gesehen. Er war für mich das Symbol für Optimis­mus und strahlen­des Leuchten. Auf der anderen Seite kenne ich Menschen, die alles haben, was das Leben zu bieten hat, und trotz­dem bis an ihr Lebensende klagen und leiden.

Alle Lebens­for­men stehen vor Heraus­forderun­gen, von der kleinen Pflanze im Garten bis hin zum großen afrikanis­chen Elefan­ten. Der Unter­schied zwischen uns und anderen Spezies besteht darin, dass wir Menschen einen Verstand entwick­elt haben, der haupt­säch­lich auf das Fehlende hinweist, negative Kommentare hervorhebt und Heraus­forderun­gen in Leiden verwandelt.

Die Wurzeln des Leidens:

Getren­nt­sein.

Es ist schwer zu begreifen, dass wir alle aus densel­ben Molekülen und Atomen beste­hen und daher auf einer tieferen Ebene miteinan­der verbun­den sind. Aber die Tatsache, dass wir das Leben in vielen Formen des Getren­nt­seins statt als Einheit erleben, bringt Angst, Einsamkeit und Leid.

Wir erleben die Trennung von Gegen­stän­den und anderen Lebens­for­men auf körper­licher, geistiger und emotionaler Ebene. Wir werden in einen Körper hineinge­boren, der von anderen Körpern, insbeson­dere von unserer Mutter, getrennt ist. Niemand kann genau sagen, wie wir uns fühlen, was wir sehen oder denken.

Doch die subtil­ste und tiefste Ebene des Leidens entsteht durch die Illusion der Trennung von der Quelle, unserem tieferen Selbst und unserer Seele. Und viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass dies die tiefere Ursache für die Unerfülltheit und das Leiden in ihrem Leben ist.

Identi­fizierung

Je mehr ich mich mit meinem schönen, muskulösen Körper identi­fiziere, desto eher werde ich leiden, wenn er alt wird oder schlapp macht. Je mehr ich mich mit meinen Gedanken identi­fiziere, umso eher bin ich meinem Unter­be­wusst­sein ausgeliefert, was sich auf meinen geistig-emotionalen Zustand und mein allge­meines Wohlbefinden auswirken wird.

Je mehr ich mich mit meinem Namen, meiner Berufs­beze­ich­nung, meinen Besitztümern, meinem sozialen Status, meiner Religion oder meiner Nation­al­ität identi­fiziere, desto mehr werde ich wahrschein­lich darunter leiden, wenn sich etwas davon ändert oder verschwindet. Je stärker die Identi­fizierung, desto stärker das Ego - je stärker das Ego, desto größer das Leid.

Wider­stand.

Wider­stand gegen das, was ist, der Versuch, Situa­tio­nen zu ändern oder zu kontrol­lieren und die Realität nach den Ideen oder Plänen des Verstandes zu steuern, führt zu Leid. Es ist wie ein ständi­ger Krieg gegen das Leben, in dem wir täglich Probleme, Sorgen, Menschen und uns selbst angreifen. Kontrolle steht der Evolu­tion entge­gen, sagte Mahar­ishi Mahesh Yogi in einem seiner Vorträge in den frühen 70er Jahren. Wenn wir versuchen, das Leben zu kontrol­lieren, geraten wir aus seinem natür­lichen Fluss und in den Griff des Leidens.

Wo das Bewusst­sein beginnt, lässt das Leiden nach.

Wenn wir uns bewusst sind, dass wir leiden, können wir uns auch dessen gewahr werden, dass wir uns dem gegen­wär­ti­gen Moment wider­set­zen. Wenn wir aufhören, uns dem zu wider­set­zen, was ist, stellt sich eine erhebliche Erleichterung ein, und das Leiden wird höchst­wahrschein­lich verringert oder endet sogar. Wenn wir uns erlauben, jeden Augen­blick, den wir atmen, zu akzep­tieren, hört der Krieg gegen das Leben auf. Wenn der Kampf gegen das Leben aufhört, kann das Leiden endlich ein Ende haben, und es kehrt Frieden ein.

Frieden ist die Todesstrafe für das Ego.

Wenn wir uns einen Überblick über die letzten hundert Jahre verschaf­fen, dann sind die Menschen, die die verheerend­sten Kriege in der Welt verur­sacht haben, ego- und macht­getrieben. Wenn das Gewahr­sein Frieden in eine Situa­tion bringt, wird das Ego um sein

Leben dagegen kämpfen. Wenn das Ego kämpft, ist das Bewusst­sein stiller und ruhiger Zeuge. Wenn ich den Krieg bemerke, den das Ego in mir auslöst, wenn Situa­tio­nen in meinem Leben heraus­fordernd sind, kann ich wählen, ob ich meine Aufmerk­samkeit auf die ego- getriebene Natur meines egois­tis­chen Verstandes lenken oder mich mit dem stillen Punkt meines Bewusst­seins verbinden möchte.

Ja zu Heraus­forderun­gen, nein zum Leid.

Ich liebe Heraus­forderun­gen, weil sie mich mit meinem tieferen Selbst verbinden. Sie sind meine besten Lehrer für Vertrauen, Hingabe und Dankbarkeit. Heraus­forderun­gen müssen nicht unbed­ingt die Bestei­gung des Everest sein. Es reicht schon, wenn man versucht, mit seinen drei Kindern in einen Park zu gehen, ohne dass man sich oder sein Bewusst­sein verliert.
Das Theater - meine alte Liebe - kleidet Heraus­forderun­gen in Kostüme, Namen, Figuren, drama­tis­che oder komis­che Situa­tio­nen und stellt sie ins Rampen­licht. Die ästhetis­che Distanz zwischen Betrachter*in und Bühne ermöglicht es den Betrachter*innen, sich der Möglichkeiten des Handelns bewusst zu werden und die emotionale Kapaz­ität zu erweitern.

In einer Komödie leidet die Haupt­figur so, dass das Publikum sich vor Lachen krümmt. In einem Drama handelt die Haupt­figur auf eine Weise, dass sie das Publikum bei der Überwin­dung von Heraus­forderun­gen inspiri­ert. Ein guter drama­tis­cher Schaus­pieler spielt die Handlung, während ein guter komis­cher Schaus­pieler die Handlung spielt, aber die Gefühle betont. Die Emotio­nen in einer Komödie sind Ausdruck von Unwis­senheit, von tiefer

Unbewuss­theit oder Dummheit, die zum großen Leiden der Haupt­figur und zum großen Gelächter des Publikums führen. Es ist leicht, Leiden und Unwis­senheit bei anderen zu bemerken, beson­ders wenn sie auf der Bühne betont werden. Sie kann uns zu Tränen rühren, wenn wir den Spott der anderen sehen. Aber was unser Leiden angeht, so können wir jahre­lang in einem unbefriedi­gen­den Job oder in unbewussten Beziehun­gen leiden und uns an den Zustand des Leidens in unserer Routine gewöh­nen, ohne zu merken, dass wir - wie eine komis­che Figur in einem Theater­stück - auch leiden, ohne uns dessen bewusst zu sein. Wenn wir uns bewusst sind, dass wir leiden, können wir wählen, ob wir uns der Situa­tion hingeben oder als drama­tis­che Akteur*innen handeln, um sie zu ändern oder uns von ihr zu entfernen.

Bewusstes Leiden

Die Erken­nt­nis, dass wir leiden, ist der erste Schritt zur Befreiung und ein Tor zu einem Leben ohne Leiden. Sobald wir anerken­nen, dass wir leiden, verliert das Leid irgend­wie seine Macht über uns. Eckhart Tolle nennt es bewusstes Leiden, erwachtes Leiden. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich leide, versuche ich, meine Augen zu öffnen und die Situa­tion wahrzunehmen. Ich versuche, die Geschichten meines Geistes von der Realität zu trennen, die sich gerade entfal­tet. Dann halte ich einen Moment inne, wodurch ich mehr Abstand zur Situa­tion bekomme. Je inten­siver die jeweilige Situa­tion, desto mehr werde ich versuchen, meine Bewuss­theit der Jetzt-Situa­tion zu inten­sivieren. Je mehr Raum ich in mir habe, desto mehr Kapaz­itäten habe ich. Selbst in Heraus­forderun­gen kann ich Kreativ­ität und ein offenes Herz finden.

Hingabe - ein Schlüs­sel zur Beendi­gung des Leidens.

Vor sechs Monaten begann mein fünfjähriger Sohn, mich jede Nacht zu rufen und zu bitten, dass ich den Rest der Nacht in seinem Bett verbringe. Zuerst dachte ich, es sei nur eine weitere Phase, die bald vorbei sein würde, aber es stellte sich heraus, dass es eine lange, anstren­gende Phase war. Nachdem ich jede Nacht mehrmals aufgewacht war, wurde mir klar, dass ich besser bis zum Morgen in seinem Bett bleiben sollte. Ich durch­lief alle Phasen des Leidens, von der Verleug­nung bis hin zu Frustra­tion und Wut, und wusste nicht, was ich tun sollte. Der Versuch, die Realität zu ändern, funktion­ierte nicht, und jedes Gespräch oder jede Handlung in diesem Zusam­men­hang machte diese Phase nur noch länger und ärgerlicher.

Irgend­wann habe ich sie akzep­tiert. Mir wurde klar, dass es nicht normal ist, in diesem Alter allein zu schlafen. Kein Tier legt sein Spielzeug in ein separates Bett oder Zimmer. Und da unser Bett in den letzten anderthalb Jahren mit den Zwill­ingsmäd­chen belegt ist, ist es keine Option für ihn, in unser Bett zu kommen. Er hat Angst, und ich bin seine beste Adresse für Trost und Sicher­heit - in dem Moment, in dem ich die Situa­tion akzep­tierte, verringerte sich das Leiden. Ich fühle mich immer noch müde und manch­mal frustri­ert, aber war nicht mehr so stark damit identi­fiziert. Ich begann sogar, es zu genießen, morgens mit ihm aufzuwachen, unsere Beziehung verbesserte sich, und wir sind mehr verbun­den als zuvor.

Jetzt warte ich darauf, dass er mich gehen lässt und die ganze Nacht durch­schläft. Bis dahin werde ich versuchen, mir zu erlauben, bewusst Freude am Leiden zu finden und es zu akzep­tieren, bis es sich ändert.

2000 1333 Idan Meir