Keine Geschichte - Kein Problem

Keine Geschichte - Kein Problem

IDAN MEIR, Dienstag 15.2.2022
Übersetzung Michael Reiterer

Wie das Aufgeben die Art und Weise verän­dert, wie wir Heraus­forderun­gen angehen.

Bevor ich Israel im Jahr 2011 verließ, feierte ich meinen Abschied mit der palästi­nen­sis­chen und israelis­chen Theater­gruppe „Combat­ants for Peace“ (Mitstre­iter für den Frieden), die ich 2007 mitbe­grün­det hatte. Wir trafen uns in dem kleinen Dorf Shiffa im Westjor­dan­land, wo wir mit unserem Theater probten. Es war ein Abend mit gemis­chten Gefühlen zwischen Dankbarkeit und Traurigkeit. Am Ende der Veranstal­tung war ich mental und emotional bereit, Israel zu verlassen. Doch mein Auto weigerte sich, mit mir zusam­men­zuar­beiten, und auf dem Heimweg, am Rande des Dorfes, hatte es eine Panne.

Meine erste Reaktion war Wider­stand und Leugnung bzw. Verweigerung.
„Ich kann nicht glauben, dass das gerade jetzt passiert… und was für eine erbärm­liche Art, einen so schönen Abend zu beenden…“ In meinem Kopf ging es weiter mit der Frage: „Wie konnte das passieren?“ Eine typis­che Weigerung, die Realität anzunehmen und die Tatsache zu akzep­tieren, dass das Auto einfach kaputt war. Dann überkam mich die Angst: „Nicht der beste Ort, um als Israeli mitten in der Nacht festzusitzen, und wie komme ich jetzt nach Hause?“ Meine Augen began­nen, sich nach einer Gefahr umzuse­hen, und sie erschien.

Man sieht immer das, was man denkt.

Drei Teenager kamen vorbei. Sie sahen verdächtig aus. Jetzt konnte ich mich nicht mehr verstecken. Sie klopften an das Fenster, um zu sehen, was los war. Ein Auto mit israelis­cher Zulas­sung, das mitten auf einer Straße steht, sieht sehr merkwürdig aus. Ich konnte noch nie gut Arabisch, „Sayara kaputt“, sagte ich und öffnete das Fenster ein bisschen. Ich dachte, sie würden jetzt gehen, aber sie blieben, und einer von ihnen holte sein Mobil­tele­fon heraus.

Man fühlt, was man denkt.

Mein Gefühl, dass sich hier eine Gefahr anbah­nte, wurde mit der großzügi­gen Hilfe meines Verstandes immer stärker. „Wovon redet dieser Junge, und wen ruft er an?“ Ich versuchte Nur, meinen palästi­nen­sis­chen Freund, der bereits zu Hause war, zu erreichen, aber er antwortete nicht. Er hebt immer ab. Diesmal tat er es nicht.

Der Riss hatte sich geöffnet.

Ich ließ mein Telefon los und atmete schwer aus. Das war der Moment, in dem meine Gedanken plötzlich für ein paar Sekun­den zur Ruhe kamen. Dadurch konnte eine tiefere Seite von mir zum Vorschein kommen. In meinem Körper stellte sich eine gewisse Wachsamkeit ein. Keine Wachsamkeit, die auf eine Gefahr hinwies, kein Herzschlag und kein Adren­a­lin, das in die Beine floss, nur ein Gefühl der Ruhe und Stille. Überraschen­der­weise fühlte ich mich friedlich.

Plötzlich sahen die Teenager anders drein. Ich sah ihre Unschuld und Güte. Die Geschichte in meinem Verstand änderte sich: „Nach vier Jahren ehrenamtlicher Arbeit in diesem Dorf kann nichts mehr schief gehen.“ Schließlich öffnete ich die Autotür, und die Jungs lächel­ten mich an, wahrschein­lich lachten sie. Ein Fremder kam mit einem Koffer heran und begann, mit dem Jungen zu plaud­ern, der zuvor telefoniert hatte. „Öffne den Motor“, sagte er auf Hebräisch zu mir. Der Junge hatte ihn zu Hilfe gerufen. In diesem Moment klingelte mein Telefon. Es war Nur, mein palästi­nen­sis­cher Freund. Ich ließ ihn mit dem Mann mit dem Koffer sprechen, der sich als Werkzeugkas­ten herausstellte, und er erklärte Nur, dass ich das Auto für die Nacht stehen lassen musste.

Das alte Narra­tiv kam zurückgekrochen.

Der Gedanke, dass ich das Auto, wenn ich es über Nacht dort stehen lasse, nie wieder sehen würde, schlich sich in meinen Kopf. Doch zu jenem Zeitpunkt war genug Raum in mir offen, um diese Geschichte zu ignori­eren. Das Gefühl von tiefem Vertrauen war in dieser Phase präsen­ter und stärker als jedes Kopfkino. Wir schoben das Auto auf einen Parkplatz neben der Straße, und ich ließ das Auto zurück. Ich weiß nicht mehr, wie ich in dieser Nacht nach Hause gekom­men bin, aber mein Auto war am nächsten Tag repari­ert und in Ordnung. Als ich das Auto abholte, nahm ich etwas Geld aus meiner Tasche und gab es dem Mann, der es für mich repari­ert hatte, aber er weigerte sich, etwas zu nehmen - ich bestand darauf, und er weigerte sich immer noch. Das war der einzige Konflikt, den wir hatten.

Von der Freude zur Begeisterung

Schließlich fuhr ich aufgeregt und dankbar nach Hause. Ich war begeis­tert davon, diese Geschichte so vielen Israelis wie möglich zu erzählen. Ich wollte diese Geschichte teilen und das Narra­tiv durch­brechen, das uns von den Medien, der Regierung und dem Bildungssys­tem eingeimpft wurde, das von unbewussten Menschen geführt wird. Und ich war dankbar für die schöne Erfahrung und die positive Erinnerung an meinen letzten Abend in Shiffa.

Ein flüchtiger Blick in den Zustand des Erwachens

Das Erwachen muss nicht in einem plötzlichen Moment der Erleuch­tung kommen. Es kann langsam in dir wachsen. Wie der Atem des Ozeans können die Gezeiten an einem Tag hoch und am anderen Tag wieder niedrig sein; das Ufer ist wieder weit vom Wasser entfernt. Vor elf Jahren im Westjor­dan­land konnte ich nicht sagen, was in diesem Moment im Auto mit mir los war. Wenn ich zurück­blicke, weiß ich, dass ein tiefer Teil von mir spontan die Kontrolle übernom­men und nicht dem Unter­be­wusst­sein den Vortritt gelassen hat. Ich bin mir sicher, dass die inten­sive Arbeit, die ich seit 2007 im Rahmen von „Combat­ants for Peace“ geleis­tet habe, auch meine Erzäh­lung durch­brochen hat.

Achtsamkeit im Alltag

Du brauchst keine so inten­sive Erfahrung machen, um dein tiefes Selbst zu finden. Das Leben bietet eine Fülle von täglichen Heraus­forderun­gen, bei denen du entweder den Geschichten deines Verstandes oder einer tieferen Ebene des Bewusst­seins folgen kannst, die in jeder gegebe­nen Situa­tion die Führung übernehmen kann. Das Packen einer Familie mit drei Kindern für den Urlaub kann zum Albtraum werden, wenn man nicht auf den Geist achtet. Ein Abendessen mit den Eltern kann ohne Aufmerk­samkeit eine Heraus­forderung sein. Ein Einkaufs­bum­mel mit einem müden, hungri­gen Kind und jede noch so einfache alltägliche Aufgabe zu Hause oder am Arbeit­splatz kann mit Geschichten gefüllt werden, wenn man nicht präsent ist.

Keine Geschichte - kein Problem

Eckhart Tolle spricht von der „Istheit“ der Dinge. Er stellt eine einfache Formel auf: das was ist = das was ist. Du hast kein Problem, wenn du einer Situa­tion keine Geschichte, kein Narra­tiv und keine eigene Meinung hinzufügst und sie einfach so nimmst, wie sie ist. In der Tat haben wir im Leben nie irgendwelche Probleme. Alle Probleme haben ihren Ursprung in den Geschichten, die wir uns über die Momente erzählen, in die uns das Leben versetzt.

Heraus­forderun­gen ohne Leiden

Heraus­fordernde Situa­tio­nen sind wichtig für die persön­liche und globale Entwick­lung. Alle Lebens­for­men stehen in jeder Phase ihres Lebens vor Heraus­forderun­gen. Wenn wir uns beschw­eren, Wider­stand leisten, gegen Heraus­forderun­gen ankämpfen oder vor ihnen weglaufen, verpassen wir die Chance, zu wachsen und unser wahres Selbst zu erken­nen. Wenn wir uns der Erzäh­lung, die uns unser Verstand erzählt, bewusst werden, können wir aus der „Gedankengeschichte“ heraus­treten und uns einer einfacheren Realität stellen.

DAS LEID VERSCHWAND SOFORT, als ich mich ganz der Tatsache hingab, dass ich mit einem kaput­ten Auto in einem fremden Land festsaß. Und als ich aufhörte, der Situa­tion Geschichten hinzuzufü­gen, wurde aus einer „miser­ablen“ eine fröhliche und herzöff­nende Situation.

1202 872 Idan Meir